Die Liebe, der Zeitgeist, die Normalität und die ewig Gestrigen

Ja, es ist die „innige Zuneigung eines Wesens zu einem andern“, wie es Luther einmal formulierte.
Doch reicht dieser Satz?
Bevor die Liebe zum Schlagwort wurde, waren die meisten Dichter und Philosophen der Meinung, nur die „innige Freundschaft“ zwischen Männern, die dem Herzen entspringt, ließe sich mit dem Wort „Liebe“ zutreffend beschreiben. Die Kirchen bestanden darauf, dass die eigentliche „Liebe“ nur gegenüber Gott empfunden werden könnte.
Die Minne und die „niedrigen“ Triebe
Die „niedrigen Triebe“, also die Liebe in Verbindung mit sinnlichem Verlangen, wurden zunächst generell als „Minne“ bezeichnet. Die Begriffe der „hohen Minne“ und der „niedrigen Minne“ überschnitten sich teilweise, und dennoch wurde die unerfüllbare Liebe später häufig als „hohe Minne“ bezeichnet. Sobald das sinnliche (sexuelle) Verlangen die größere Rolle spielte, sprach man eher von der „niederen Minne“. Viele Menschen glauben bis heute, dass darin eine „höhere Wahrheit“ liegt.
Die Veredlung der Liebe - und die Schlitzohren
In Wirklichkeit wurden solche Begriffe gebraucht, um die „Liebe“ oder eben auch die „Minne“ zu veredeln. Denn der Troubadour (Minnesänger) konnte recht unterschiedliche Ziele anstreben – sein Liebeserfolg hingegen war allein von der Gunst der Dame abhängig. Im 12. Jahrhundert, zur Blütezeit des Minnesangs, waren die Troubadoure so schlitzohrig wie die „feinen“ adligen Damen. Veredelt wurde ihr Tun erst im 19. Jahrhundert durch den Komponisten Richard Wagner und seinen „Tannhäuser“ - und erst im 20. Jahrhundert, verfestigten deutschtümelnde Schulmeister diesen Eindruck.
Die Liebe zu Frauen war auch in späteren Zeiten ein heikles Thema. Die Frage, die sich viele Literaten, Philosophen und Ärzte (später vor allem Psychiater) stellten, bestand darin, ob Frauen überhaupt zur innigen Liebe fähig waren. Noch im 19. Jahrhundert wurde bezweifelt, ob Frauen ein „sinnliches Verlangen“ hätten, obgleich die Liebesheirat bereits zur Regel wurde und sich die bürgerliche „Normalität“ langsam auflöste.
Gegen die falsche "Normalität" der Vergangenheit
Wer heute die „alten Zeiten“ wieder herbeisehnt, sei es politisch, ethisch oder in anderer Weise, sollte sich klar sein: Der Weg dahin führt in die Unfreiheit, in die Fremdbestimmung und in lebenslange Abhängigkeit. So etwas wie „Normalität“ existiert nicht - sie wird von betont konservativen Kräften herbeigeredet.
Schauen wir stattdessen mutig und selbstbewusst in die Zukunft, um die Freiheit und Gleichheit zu wahren und zu vertiefen. Und versuchen wir, die dunklen Kräfte zu bannen, die uns mit Lug und Trug in die angebliche „Normalität“ einer „guten alten Zeit“ zurückführen wollen, die es niemals gab.
Bild: Der Minnesänger Dietmar von Aist als fahrender Händler. Aus dem Codex Manesse.