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 Liebeszeitung - Liebe, Lust und Sex
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Sind Künstler potenzielle Kinderschänder?

jungmädchenanmut bei Henry Ryland


Ich weiß nicht, wes Geistes Kind der eine oder andere Kolumnist deutscher Zeitungen ist – möglicherweise sind immer noch ein paar Männer dabei, denen es nicht recht ist, wenn katholischen Priester an den Pranger gestellt werden. Ach, die armen Priester! Mit viel Mühe sucht das deutsche katholische Establishment nun, doch auch andere Buhmänner zu finden, die zwar keine Priester waren, aber den 1968ern nahe standen – und wenn sie auch nicht viel taugen, um den Katholizismus doch noch reinzuwaschen, dann müssen eben die Künstler her.

Allerdings machen die Journalisten einen groben Fehler, die unsere Moralvorstellungen von 2010 (oder meinetwegen von 1960) auf die Zeit von 1910 oder nach früher transportieren wollen, und sie sollten auch nicht vergessen, dass Pfarrer und Künstler zu allen Zeiten durchaus unterschiedliche Aufgaben zufielen: Pfarrer sollen Traditionen vermitteln, Künstler müssen der Zeit einen Schritt voraus sein und bereits das zeigen dürfen, was andere noch nicht einmal zu denken wagen.

Die gegenwärtige angebliche „Diskussion“ um das Werk des deutschen Malers Ernst Ludwig Kirchner ist so biedermännisch verseucht, dass man kaum noch Worte findet: „Nackte Mädchen habe er gemalt, minderjährige gar noch … ei, pfui Teufel“. Und schon brüskiert sich die schnatternde, aber überwiegend kulturlose Leserschaft namhafter deutscher Presserzeugnisse.

Man vergisst dabei, dass es im 19. Jahrhundert und eben auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Künstlerinnen und Künstler gab, die von der Anmut junger Mädchen fasziniert waren – von Schriftsteller Lewis Carroll über den deutschen Maler Ernst Ludwig Kirchner bis hin zum Maler der jungen Mädchen, Balthus (gegen 1930) oder der Fotografin Irina Ionesco (gegen 1970) – und alle genannten hatten schon einmal „ihren“ Skandal.

Der „Skandal“ ist dabei immer das, was in den Hirnen allzu fantasiebegabter Bürger abgeht, denn obgleich man sich gelegentlich nicht so benahm, wie es in Bürgerkreisen üblich ist, hatte man sich doch nichts vorzuwerfen. Selbst im Konflikt um die Minderjährige Alice Pleasance Liddell (das Vorbild der Heldin von "Alice im Wunderland) und dem Schriftsteller Charles Lutwidge Dodgson (Lewis Carroll) gab es keine Beweise irgendwelcher Übergriffe.

Es ist die Anmut gewesen, das vermeintlich paradiesische, der Jugendschmelz, der Künstlerinnen und Künstler aller Epochen an Jugendlichen begeisterte. Dass die Nacktheit von Kindern möglicherweise ausgenutzt und ausgebeutet werden könnte, und dass insbesondere Mädchen nicht nackt dargestellt werden sollten, ist eine Erkenntnis, die sich erst ab etwa 1970 wirklich durchsetzte – etwa zum gleichen Zeitpunkt, als die Frauenemanzipation ihren Fokus darauf richtete, auf keinen Fall wegen ihrer Weiblichkeit verehrt zu werden. Die schwärmerische Romantik, die kurz zuvor noch hoch gehalten wurde, verschwand auf der ganzen Linie.

Heute ist alles wieder ganz anders. Wir nehmen die Kinderrechte sehr ernst, was gut und richtig ist, und haben solche Begriffe wie „Jugendschmelz“ und „Anmut“ längst zu den Akten gelegt. Wir sehen in den Jungen und Mädchen der heutigen Zeit weit mehr als früher eigenständige Persönlichkeiten, die wir als solche auch ernst nehmen. Wenn man so will, leben wir in einer sehr strengen Zeit und keinesfalls in dem Sündenpfuhl, den uns Gesellschaftskritiker einreden wollen. Was viele Menschen auch vergessen: Heute haben wir festgeschriebene Kinderrechte, die auch tatsächlich eingehalten werden – vor 1924 gab es sie nicht.

Bild: "Perlen" von Henry Ryland, britischer Maler, datiert 1897,

Wer Korrektes über Kirchner erfahren will, meidet am besten deutsche Zeitungen: Ich empfehle die NZZ.