Es gab einmal eine Zeit, an die ich mich sehr gut erinnere: Damals tauchten psychologische Eliten auf, die uns sagten, wir müssten „unseren Verstand verlieren, um zu Sinnen zu kommen“. Das Bild, das sie mitbrachten, hieß „Zwiebeln schälen“ und das Mittel, dass sie verwendeten, waren brutale, menschenunwürdige Formen der Gruppentherapie. Diesen Leuten war es nicht genug, wenn sie die obere Schutzschicht der Seele abtragen konnten – sie wollten Schicht um Schicht abtragen, wie bei einer Zwiebel. Am Ende fanden sie – nichts. Sie waren so verbohrt, nicht zu begreifen, dass eine Zwiebel eine Zwiebel ist, und dass alle Häute zu ihr gehören.

Wenn wir Dingen auf den Grund gehen, erkennen wir sie oft nicht mehr. Wir können einen Wald in seine Bestandteile zerlegen und ein riesiges Buch darüber schreiben – und wenn wir dieses Buch lesen, wissen wir dennoch nicht, was „Wald“ ist. Wenn wir die Wahrheit über „Wald“ wissen wollen, müssen wir uns zusammentun und darüber reden. Falls sich ein Wald, in der Nähe befindet, sollten wir ihn besuchen und alle Eindrücke sammeln, die wir dort vorfinden.

Sie merken schon: Was ich gerade beschreibe, gilt nicht nur für den Wald, sondern auch für die Liebe. Wir können sie nicht begreifen, wenn wir sie als Zwiebel schälen, oder wenn wir sie in ihre Bestandteile zerlegen wie den Wald. Wir müssen also mit all unseren Häuten leben und lieben wie die Zwiebel und wir sollten uns einen persönlichen, unnachahmlichen Zugang zu dem Phänomen der Liebe verschaffen, wie wir das beim Wald tun.

Wirkliche Liebe? - warum sollte Liebe "wirklich sein"?

Es gibt keine „wirkliche Wirklichkeit“ in der Liebe. Paul Watzlawick hat dankenswerterweise einmal geschrieben, dass die Wirklichkeit der Menschen durch Kommunikation entsteht. Fragen wir also, wie „Wirklich die Wirklichkeit ist“, so müssen wir uns auch fragen, wie gut wir in der Kommunikation miteinander sind, wie gut unsere Modelle sind. Wir alle haben ein eigenes Modell von der Liebe, das nur wir kennen und mit dem nur wir fühlen und handeln. Niemand sonst auf dieser Welt hat exakt das gleiche Modell.

Ob es Liebe gibt, ist eine Diskussion um des Kaisers Bart. In unserem Gefühlsleben gibt es alles, was wir selber für möglich halten – ob wir es mit einem anderen Menschen teilen können, wissen wir zu Anfang noch nicht. Treffen sich zwei Menschen, so tauschen sie ihre Modelle der Liebe aus. Wir erkennen dann, was gemeinsam möglich sein könnte, aber wir lernen auch, dass es in unseren Emotionen noch Lücken gibt – wir erweitern unser Modell beispielsweise durch neue, ungewohnte Liebespraktiken.

Wirklichkeiten werden von Menschen geschaffen - auch in der Liebe

Kein Mensch außer den beiden Liebenden kann beurteilen, wir „real“ ihre Liebe ist. Beide haben eine eigene, voneinander getrennte Wirklichkeit und eine gemeinsame Wirklichkeit, die sie „Liebe“ nennen. Was sie dabei fühlen, geht nur sie etwas an und keinen anderen Menschen. Es ist für uns unmöglich, ihre Realität vollständig zu begreifen.

Wir haben die Möglichkeit, miteinander Wirklichkeiten zu schaffen, die andere für Illusionen halten. Es ist unser gutes Recht, in den Wirklichkeiten zu leben, die andere als Illusionen ansehen. Wir dürfen ihre Kritik daran abweisen – es ist unser Leben. Wie verlangen von niemanden, dass er unser Leben lebt. Wir haben also das Recht auf unsere Illusionen.

Wenn wir leiden, können wir unter den Realitäten oder unter den Illusionen leiden. An vielen Realitäten können wir nichts ändern, an unseren Illusionen schon. Wir können alte Wirklichkeiten abbauen und neue aufbauen, das ist unser Menschenrecht.

Illusionen - warum eigentlich nicht?

Wenn ihr liebt, und ihr beschließt, eine gemeinsame Illusion aufzubauen, und wenn es euch gelingt – ja, warum solltet ihr es dann nicht tun? Solange man eine Illusion miteinander leben kann, ist sie oft berauschender als jede Realität. Es mag ja sein, dass die „Seifenblase eines Tages platzt“, wie jetzt die Kritiker sagen würden. Es mag sein, dass es dann Tränen gibt und auch die Wut drauf, eine Illusion gelebt zu haben. Ja, da mag sein. Wenn es euch ein Trost ist: Auch Ehen werden manchmal geschieden, und auch dort gibt es Tränen und die Wut auf sich selbst und den anderen.

Die Frage ist, was euch wichtig ist, was euch lieb ist, was ihr genießen wollt. Nur das Leben ist das Leben, und es findet nicht irgendwann einmal statt, sondern jetzt und hier – und ein paar Illusionen gehören auch dazu. Solange diese nicht das Leben beherrschen, sondern wunderbare Flitter unseres Daseins sind: warum eigentlich nicht?

Titelbild © 2007 by honey-bee