Eigentlich müsste man sich die Augen reiben, aber kaum jemand tat es: Da ist ein moderner, relativ junger Mann zum deutschen Bundespräsidenten gewählt worden, der geschieden und wiederverheiratet ist und mit seiner Frau in einer Patchwork-Familie lebt.

Wissen Sie, ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen Geschiedene gemieden wurden wie Aussätzige, und in denen Männer, die eine jüngere Frau heirateten, verachtet wurden. Es war ebenso eine Zeit, in der ledige Mütter von Jugendämtern gegängelt und überwacht wurden.

Ja, so eine Zeit gab e. Sie hieß Adenauerära, und die damalige CDU fühlte sich noch ganz als Verfechter einer fragwürdigen Christenmoral, deren Wurzeln sie aus der katholischen Kirche bezog. Zu manchen Zeiten schien es so, als würden die Richtlinien der Sexualmoral direkt von der katholischen Kirche via CDU in die Familienpolitik importiert.

Insofern ist der gestrige Tag mit der Wahl von Christian Wulff als Bundespräsident ein Befreiungsschlag besonderer Art gewesen: Wenn das Staatsoberhaupt in einer Patchwork-Familie leben kann, dann kann es jeder andere Deutsche auch versuchen.