Die kurze und verfälschte Geschichte der Heterosexualität

Straight oder Heterosexuell - das neue Etikett für die ganz gewöhnliche Sexualität
Im ersten Teil bin ich auf die Rolle der Frauen im 19. Jahrhundert eingegangen – und wie „Homosexualität“ plötzlich zum Thema wurde. Nun will ich Ihnen sagen, wie der Begriff aus den Tiefen der wissenschaftlichen Literatur in die Welt gebracht wurde. Und ich meine, dass er dort nichts zu suchen hat.
Wann kamen aber nun die „Heterosexuellen“ ins Spiel? Nun, sie können nur dann existieren, wenn die „Homosexuellen“ Konturen bekommen haben.
Heterosexualität - nur sinnvoll als Gegensatz zur Homosexualität in der Literatur
Erstmals hörte man von „Heterosexualen“ beim Schriftsteller Karl Maria Kertbeny im Zusammenhang mit den „Homosexualen“ (1869). Das Wort wurde allerdings zunächst so gut wie niemals verwendet, weil man diese Bezeichnung zunächst für eine Marotte der Autoren hielt. Ähnlich war es auch bei dem Juristen Karl Heinrich Ulrichs, der die nicht-homosexuellen Männer „Dioninge“ nannte (1864). Das Wort „Heterosexuell“ wollte sich einfach nicht durchsetzen – nicht in der Wissenschaft und erst recht nicht außerhalb. Im Grunde ist dies verständlich: In einer Gesellschaft, die überwiegend aus weißhäutigen Menschen besteht, werden die weißhäutigen nicht als „Weiße“, sondern als „Norm“ angesehen. Entsprechend war (und ist) es mit der Heterosexualität: Wer es ist, ist es. Heterosexualität braucht keine Bezeichnung.
Wissenschaftler meiden den Begriff, Lexika führten ihn kaum
Selbst in der Wissenschaft tat man sich schwer damit. In Deutschland wurde die Heterosexualität (Magnus Hirschfeld, vermutlich 1918) noch als Alloiophilie bezeichnet. „Heterosexualität“ galt im englischen Sprachraum als „übertriebene Begierde“ (Webster 1923). Die Begriffsänderung soll im englischsprachigen Raum durch den Sexualforscher Havelock Ellis bewirkt worden sein. Ob der Begriff 1934 schon „Mainstream“ war oder nicht, jedenfalls stand damals im Webster, Heterosexualität sei die Verfestigung der sexuellen Leidenschaft für das andere Geschlecht“. Heute gibt man sich auch dort gelassener und sagt, es sei eine „Charakterisierung der Tendenz, sexuell nach dem anderen Geschlecht zu verlangen.“ Deutschsprachige psychologische und soziologische Lexika, ja selbst die aufkommenden Lexika der Sexualität kannten den Begriff lange Zeit nicht (nachweisbar bis weit ins 20. Jahrhundert).
Bis Anfang 1970 keine Gedanken an Heterosexualität
Folgerichtig wurde das Wort „Heterosexuell“ vor den 1960er Jahren so gut wie niemals gebraucht. Möglicherweise ist seien massenhafte Verbreitung auf das gegen 1970 aufkommende Interesse an sexuellen Zusammenhängen zurückzuführen. Eine andere Vermutung besteht darin, dass sich „Heterosexuell“ überhaupt nur als Gegenteil von homosexuell durchsetzen konnte – und auch nur dort, wo die die homosexuelle (schwul-lesbische Bewegung, LGBT) Bewegung die Definitionsmacht gewann.
Was ist das Fazit zum Gebrauch von "Heterosexualität"?
„Heterosexuell“ ist ein weitgehend ungeeigneter Begriff, um sich selbst zu positionieren. Er schränkt ein, etikettiert und entwertet. Kein sogenannter „Heterosexueller“ ist in erster Linie „heterosexuell“, sondern zunächst vor allem ein Mensch mit zahllosen Eigenschaften, über die er sich definieren kann – und sollte.
Begonnen hat der Etikettierungswahn in der Sexualität ohne Zweifel, als Wissenschaftler und Autoren des späten 19. Jahrhunderts begannen, über männliche Homosexualität (Urnigtum, mannmännliche Liebe, konträre Sexualempfindung) zu schreiben. Heute ist es vor allem eine Art „Gegenbild“ zur Homosexualität, aber kein eigenständiger, für sich gültiger Begriff.
Also: Lassen wir es doch bitte bleiben, von Heterosexuellen zu reden. „Heterosexualität" ist ein flüchtiger Begriff, der nichts wirklich kennzeichnet – außer, dass er kennzeichnend für eine Zeit ist, die ohne Menschenetikettierung
Hinweis: Zu dieser Artikelserie wurden mehrere internet-typische Quellen nachgelesen. Benutzt wurde unter anderem auch das Archiv des Liebesverlags, einige historische Lexika, sowie das Buch "Straight" von Hanne Blank, Boston 2012.
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