Die „fließende Geschlechterrolle“ oft auch als „Heteroflexibilität“ bezeichnet, ist keine Entdeckung der Neuzeit. Gut verborgen hinter der Fassade der „Wohlanständigkeit“ wurde sie in den Nischen der Gesellschaft ausgelebt – und vor allem in der Literatur.
Dabei will ich klarstellen, dass die fließende Geschlechterrolle nichts mit der aktuellen Genderdiskussion zu tun hat. Eine Rolle bleibt eine Rolle, völlig unabhängig davon, was der Zeitgeist uns einflüstern will.
Die Fassaden der guten Gesellschaft brachen gegen Ende des „erweiterten 19. Jahrhunderts“ ein, also, spätestens bis 1919. Das hatte viele Gründe, aber einen finden wir zweifellos im viktorianischen England. Die Umstände, die dazu führten, können im Standardwerk „The Origins of Sex“ von „Faramerz Dabhoiwala“ nachgelesen werden.
Lustvolle Schläge - im Bordell
Die Gentlemen jener Zeit suchten allerlei erotische Vergnügungen und wichen deutlich vom Bild einer strengen Sittsamkeit ab. Ob es um Prostituierte oder Mätressen ging – der sexuelle Hunger der Herren war offensichtlich. Viele der Herren aus den „besseren Ständen“ vergnügten sich damit, sich ihre Gesäße von bezahlten Damen verbläuen zu lassen. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in London zahlreiche
Flagellationsbordelle, die bei Bürgern und Adel ausgesprochen beliebt waren.
Blühende Fantasien in der erotischen Literatur
Die Fantasie trieb weitere Blüten. Die Autoren der damaligen Zeit dachten sich „Erziehungsrituale“ aus, die vor allem auf Körperstrafen beruhten und veröffentlichten sie in Büchern und Zeitschriften. Genannt wird oft das Magazin „The Pearls“ (1879 bis 1980) und nicht zuletzt die „Blaupause“ für Romane um Geschlechterverwirrungen (1893, Anm. 1): „Gynecocracy“, auf Deutsch „Weiberherrschaft“ (Leipzig 1909 Anm.2).
Kaum wahrgenommen - der Ursprung vieler ähnlicher Romane
Im Gegensatz zu vielen anderen erotischen Romanen wurde das Buch (oder die Trilogie) um den jungen „Julian Robinson“ öffentlich nie vollständig wahrgenommen. Das mag daran liegen, dass der eigentliche Autor des ersten Bandes Rechtsanwalt war - also kein etablierter Schriftsteller. Es könnte auch daran liegen, dass diese Buchszenen beinhaltet, die als moralisch extrem verwerflich gelten – übrigens bis heute. Zum Dritten könnte es sein, dass die typisch „britischen“ Erotik-Elemente für Deutsche extrem verwirrend sind. Ich nenne die Einstellung der „privilegierten“ Gesellschaftsschicht zu schnödem Personal, aber auch die vermeintlich „inzestuösen“ Szenen wie auch das Anklingen von Homosexualität. Hinzu kommen noch die pikanten Flagellation-Szenen, die später als „das englische Laster“ bezeichnet oder die „englische Erziehung“ in den Sprachgebrauch eingingen.
Bis heute sind die Plots allerdings ähnlich.
Schüchterner Mann gerät in Abhängigkeit von Frauen
Das Grundthema: Ein eher schüchterner, sexuelle noch unerfahrener junger Mann gerät in die Abhängigkeit einer reifen Dame. Es kann auch eine Gruppe von jüngeren, dominanten Frauen sein. Der Mann hat den latenten Wunsch, sexuell aktiv zu werden, die Frauen sehen in ihm eine Art Spielball, der mit Schlägen, Drohungen und psychischer Gewalt „gefügig“ gemacht werden soll.
Die älteren „Erzieherinnen“ entstammen immer noch dem „gehobenen Milieu“. Das Alter der jungen Männer wird meist nach oben korrigiert und das Recht zur Züchtigung wird aus angeblichen Verfehlungen konstruiert. In manchen Fällen ist schon eine gewisse „innere Abhängigkeit“ vorhanden, die dann mit psychologischen Mitteln ausgebaut wird. In fast allen neuen Plots wird das Alter des jungen Mannes angehoben, und um dem Inzestvorwurf entgegenzutreten, wird das Verwandtschaftsverhältnis bereinigt.
Geblieben sind vor allem besondere Situationen, etwa vor Zuschauerinnen gezüchtigt zu werden, Frauenkleider zu tragen oder vom Dienstpersonal geschlagen zu werden.
Heteroflexibilität in Beziehungen
Nicht nur die Erotik-Literatur, auch anerkannte Sachbuchautoren (Anm. 3) weisen darauf hin, dass es kaum noch in Stein gemeißelte Vorstellungen von „Heterosexualität“ gibt. Ein großer Teil der Schöpfer solcher Werke sind Frauen, denen ohnehin eher eine „fluide“ Sexualität unterstellt wird.
Solange Menschen sich öffentlich präsentieren, vermeiden sie zumeist, als „heteroflexibel“ angesehen zu werden. Im privaten Rollenspiel ist das anders – da wissen die Akteure, dass sie spielen und welche Rolle sie dabei einnehmen. Die Fantasie bietet eine weitere Dimension – die völlige Hingabe an entsprechende Gedanken. Das ist der Grund, warum relativ viele Männer und eine hohe Anzahl von Frauen sich in solche Fantasien hineinträumen wollen.
Darüber hinaus enthalten auch Freundschaften aller Art enthalten häufig sinnliche Komponenten, ohne dass daraus jemals entsprechende Berührungen entstehen. Und sinnliche Berührungen führen nicht zwangsläufig zu intensiven sexuellen Handlungen. Schließlich – auch das sollte noch gesagt werden – sind vereinzelte sexuelle Handlungen keine Indizien für die sexuelle Ausrichtung.
Bei allen Unterschieden zwischen 1893 und 2025 – die Gefühlswelten folgen nicht dem jeweils herrschenden Zeitgeschmack, sondern sie entstehen in unseren Köpfen. Was dann dabei herauskommt, ist weitgehend davon abhängig, ob wir es in der Fantasie verkapseln oder es als Herausforderung für unser Liebesleben verstehen.
Nüchterne Betrachtungen ergeben eine klare Sicht
Was hat also die viktorianische erotischer Literatur mit den heutigen „fließenden Geschlechterrollen“ zu tun? Vor allem, dass Fantasien dieser Art nicht neu sind, sondern ganz offensichtlich ein Teil der verborgenen sexuellen Persönlichkeit sind.
Wer das akzeptieren kann, wird dieses Thema wesentlich nüchterner betrachten.
Anmerkung 1: Original des Buches: Gynecocracy - A narrartive Of THE ADVENURES AND PSYCHOLOGICAL EXPERIENCES Of JULIAN ROBINSON (afterwards Viscount Ladywood) UNDER PETTICOAT-RULE written by himself.
Anmerkung 2: Deutsche Übersetzung: Weiberherrschaft DIE GESCHICHTE DER KÖRPERLICHEN UND DER SEELISCHEN ERLEBNISSE DES JULIAN ROBINSON NACHMALIGEM VISCOUNT LADYWOOD VON IHM AUFGEZEICHNET ZU EINER ZEIT WO ER UNTER DEM PANTOFFEL STAND. (Übersetzer Erich von Berini-Bell)
Anmerkung 3: (2) Hanne Blank, "Straight" , Boston 2012.